Freitag, 29. November 2024

Essen, Folkwang: Es war einmal ... die linke Weltreportage

  • 3. Dezember 2024, 18 Uhr: "Die Nachkommen Abrahams" (Israel / Palästina 1989)
    Kommentierte Filmvorführung, Referent: Avner Ofrath (FU Berlin).
    Ort: Kulturwissenschaftliches Institut, Gartensaal, Goethestr. 31, 45128 Essen.
    Mit hoffentlich harter, aber friedlicher und offener Diskussion!

Für die Älteren ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit. Für Junge in eine andere Welt. Wirklich?

Schau des Archivs 

Tatsächlich kommt die Ausstellung sehr archivarisch daher.
Jede Menge säuberlich ausgeschnittene Zeitungsartikel, vergilbtes Papier, Filmstills und so weiter. Das allein ist schon ermüdend. Journalistische Arbeiten, Feuilleton, Magazin- oder Fernsehreportagen sind für das Publikum ihrer Zeit geschrieben oder gefilmt - sie 50 Jahre später in einem Museum zu präsentieren, macht dies noch einmal deutlich.


Deffrage & Troeller
Keine Bilder zum Träumen. Stern-Reportagen - Filme.
Museum Folkwang, Essen
15.11.2024 – 23.02.2025
(c) Vera Kriebel, 14.11.24

 

Es wirkt vieles verstaubt, vergilbt, altbacken, manches erschreckend reaktionär: Die weiße Frau hoch zu Ross, umgeben von zwei einheimischen Führern und einer Menge einheimischer Hilfskräfte zu Fuß. Ein Duktus wie die Entdecker in früheren Tagen mit ihren Trägern. (Auch wenn die Situation am Mount Everest sich heute nicht viel anders darstellt.)

Warum 

Eine Kulturinteressierte fragt zuallererst, weswegen diese Schau im Folkwang läuft. Es gibt keinen echten Grund. Die Fotos sind nicht schlecht, aber als Fotos eher belanglos. Das Archiv Troellers ist dem Folkwang-Museum übergeben worden. Vielleicht ist das Grund genug.

Troeller & Deffrage &

Mme. Deffrage hätte 2024 ihren 100. Geburtstag - das ist der Aufhänger. Die Ausstellung wandert 2025 nach Luxembourg. Und vermutlich einer der Gründe, warum Marie-Claude Deffrage im Ausstellungstitel als Erste genannt wird, obwohl ganz offensichtlich Troeller das Zentrum nicht nur des Schaffens bildete.

Voyages a trois

Die Kuratorin Petra Steinhardt versucht die Leistung der Frauen im Kulturbereich herauszustellen - allein: Hier scheint sie dieses Bemühen fehlzuleiten. Erst kurz vor der Eröffnung wird ihr die Rolle der Dritten im Bunde deutlich: Ingrid Becker, spätere Troeller, assistiert den beiden in ihren Projekten. Zu dritt bilden Troeller, Deffrage und Becker eine Ménage-à-trois, eine klassische Dreiecksbeziehung, die aber 1974 scheitert.

"Gordian Troeller und Marie-Claude Deffarge habe ich ... 1966 kennengelernt. Ihre Art zu leben und zu arbeiten, ihre politischen Ansichten und Analysen faszinierten mich. ... Unsere Freundschaft wurde bald sehr eng. Das Ende der 60er Jahre bedeutet für mich ein Ausbrechen aus vielen verkrusteten Vorstellungen. Wir versuchten für uns eine Lebensform zu finden, jenseits der bürgerlichen Zwänge.

... Während ich 1974 ein halbes Jahr lang Feldforschung in Kolumbien betrieb, trennten sich Marie-Claude und Gordian als Paar. Unsere Dreierbeziehung war nach acht Jahren gescheitert. Marie-Claude ging nach Frankreich zurück ... Die enge Zusammenarbeit an den Filmen blieb jedoch bis zu ihrem Tod 1984 erhalten. ... 1987 heirateten wir." (I. Becker-Ross-Troeller, Website G. Troeller & M.-C. Deffrage

Arbeit und Leben von Troeller wie auch von Deffrage und von Becker können nicht getrennt betrachtet werden - und schon gar nicht auf Flamencotänzerin und Fotografin oder Reporter und Antifaschist (oder - auch wenn Frau Troeller tatsächlich in der Ausstellung übersehen wird - Gymnasiallehrerin und Assistentin der Reporterteams) reduziert.
  

Für Schulklassen und historisch Interessierte?

Man muss heute oft schlucken und fragt sich, wie stark doch in den "aufrührerischen" bekennende europäische Linke in den reaktionären Mustern des 15. Jahrhunderts verhaftet waren (wir Alten damals auch!) - allein für diese Reflexion der eigenen persönlichen oder Landesgeschichte ist der Besuch der Ausstellung wertvoll.

Im Zeitalter der Weltreisen, bei denen ein einzelner deutscher Reiseweltmeister von jedem seiner Ausflüge 22.000 Fotos seinem zu Hause verbliebenen Umfeld präsentieren will, sind Reiseberichte und Reisefotos zunächst einmal nicht wirklich spektakulär.

Stern:
Früher dick wie ein Buch und
mit Anspruch


     
Stern heute:
Seicht und dünn

 

Journalismusgeschichte 


Troeller hat unzweifelhaft BR-deutsche Journalismusgeschichte geschrieben. Seine Reportagen haben die Berichterstattung der 1970er mitgeprägt.

Was Troellers Reportagen anders macht als die Unzahl schlechter Reiseberichte und immer noch mithalten lässt mit den guten, engagierten Reportagen, sind Mut, Kreativität, Neugier, das direktes Zugehen der Reporter: Auch heute sind die Klassiker der Troellerschen Reportagen wie "Frauen der Welt" und "Kinder der Welt" sehenswert. Und erschreckenderweise sind viele Berichte aus den "Krisengebieten" so aktuell wie vor 60 Jahren.
Hinzu kommt der Blick auf die Veränderung der Medien, den "Deffrage & Troeller" dem Besucher aufzwingt. Zur besten Sendezeit politische Auslandsreportagen in den Öffentlich-Rechtlichen, recht gut recherchiert, analytisch, mit Hintergründen - heute undenkbar. Allerdings: Troeller und sein Team haben durchaus leicht verdauliche Reportagen geliefert. Eine die komplexe, differenzierte Bearbeitung war ihrer subjektiven Herangehensweise fremd - sonst hätten vermutlich auch die BRD-Bürger der sozial-liberal veränderten 1970er Jahre nicht 90 Minuten gebannt vor dem Fernseher zugeschaut.




Politisch, subjektiv, kontrovers

Tatsächlich erscheinen Troeller & Deffrage inmitten der reaktionären Adenauerzeit als frühe Boten, ihr Erfolg - und vielleicht auch ihr antibürgerliches persönliches Scheitern - entwickelt sich parallel zu den Umbrüchen der 68er und der sozial-liberalen Zeit in Westdeutschland. Eine Zeit nicht der Revolution, aber der tiefgreifenden Änderungen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft, aber auch der Welt, die damals Gräben zwischen den Lagern abbaute, den Kalten Krieg überwand und die Welt friedlicher machen wollte.

In Zeiten, in denen die grünen Politiker als Panzerexperten glänzen, ist es tatsächlich das sehr, sehr lange her.

Und sehr profan: Der Eintritt von 8 Euro erscheint in keinem Verhältnis zu dem, was die Ausstellung bietet.

Postkolonialismus hin oder her

Die Einstellung Troellers, Deffrages und Beckers sich auf das und den Anderen fasziniert und neugierig einzulassen - sie würde uns allen gut tun! Zu hoffen ist, dass am 3. Dezember nicht die einen Nachkommen Abrahams die anderen niederschreien.
  • 3. Dezember 2024, 18 - 20 Uhr: "Die Nachkommen Abrahams" (Israel / Palästina 1989)
    Kommentierte Filmvorführung, Referent: Avner Ofrath (FU Berlin).
    Ort: Kulturwissenschaftliches Institut, Gartensaal, Goethestr. 31, 45128 Essen.
    (BTW: Stammen wir Nordeuropäer auch von ihm ab? Wer will eigentlich von einem religiösen Fanatiker-Patriarchen abstammen?)

Wertfrei gleich wertlos.
Deffrage & Troeller

Museum Folkwang, Essen
15.11.2024 – 23.02.2025
(c) Vera Kriebel, 14.11.24

Tatsächlich ließe sich noch vieles mehr zu dieser Ausstellung schreiben - doch schaue jeder selbst! 

  • Die Ausstellung Haare ist trotz des - für Ältere - eher drögen Themas eine Empfehlung und kann zusammen mit Deffarge & Troeller besichtigt werden. Sie ist voller junger Leute :-)
    Die Ticket-Politik des Folkwang ist jedoch recht undurchsichtig - werden für beide Ausstellungen zusammen wirklich 18 Euro verlangt?

Infos zu Deffarge & Troeller, Essen

Deffarge & Troeller. Keine Bilder zum Träumen. Stern-Reportagen und Filme.

Begleitprogramm 

Iranische Kommentare zu Troeller & Deffarge

  • Workshops und Lehrreihen zu Postkolonialismus und Antirassismus (noch unter Vorbehalt, daher am besten direkt beim Folkwang anfragen: 0201 8845 160).


Fotos und Videos

Alle Fotos und Videos:
Deffrage & Troeller
Keine Bilder zum Träumen. Stern-Reportagen - Filme.
Museum Folkwang, Essen
15.11.2024 – 23.02.2025
(c) Vera Kriebel, 14.11.24
 
Video mit Ingrid Becker-Ross-Troeller: https://www.youtube.com/watch?v=0NpNzQPPB30.

Das Museum als offenes Archiv 




Tipp

Soundraum mit den (oft gewöhnungsbedürftigen) Klängen der Welt







Ingrid Becker-Ross-Troeller



Vietnam

Lambarene






Außergewöhnliche Leben 

zwischen Widerstand, Flamenco und Weltberichterstattung





Kuratoren, Kuratorinnen & Frau Troeller




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